Jurybegründungen Hessische Theatertage 2021

Die Jury der Hessischen Theatertage, bestehend aus Miriam Ibrahim, Esther Holland-Merten und Shirin Sojitrawalla, vergab die Preise an folgende Produktionen:

3 Preise in der Kategorie: 
RAUM. ZEIT. FIKTION.
Der Moment, in dem alles ineinander greift.
Ein Preis für das Zusammenspiel von Themenwahl und Umsetzung, Relevanz und Vermittlung.

RAGE. A TENNIS WESTERN 
Konzept & Inszenierung: Hanna Steinmair

Miriam Ibrahim:
Das Theater und der Alltag sind bestückt mit Traditionen und Verhaltensmustern, die uns alle auf individuelle Weise prägen und sozialisieren - uns in unserer Identität als einzelne Person oder als Kollektive mit formen. In RAGE. A TENNIS WESTERN werden Traditionen und Verhaltensmuster von Race und Gender als sozialisierte Konstrukte entlarvt. Die kulturell eingeschriebenen Codes für Männer, bekommen eine ganz andere Bedeutung, wenn dieselben Codes von Frauen oder BIPOCs angewandt werden. Es wird spielerisch und dadurch annehmbar die Ungleichverteilung und Ungleichwertung sichtbar gemacht. 

Shirin Sojitrawalla:
Just do it. Die beiden grandiosen Performerinnen Joana Tischkau und Maria Sendlhofer tun es einfach. Sie eifern männlichen Vorbildern hemmungslos nach, mögen diese John McEnroe heißen oder Lucky Luke. Weißer Sport trifft hier auf Wilden Westen. Gängige Frauenbilder werden lustvoll zertrümmert und doppelte Standards pointiert hinterfragt: breitbeinig, komisch, wahr. So sehen Siegerinnen aus.

Esther Holland-Merten:
Hier gibt es keine Scheu. Hier wird geschrien. Hier wird schamlos gewütet. Hier wird gejammert bis zum Exzess. Hier wird unumwunden posiert. Und das wird auserzählt.  Jede Situation wird ausgespielt, in die Breite gezogen, so lange durchvariiert, bis sie in die Bedeutungslosigkeit hinein sich verlängert. Und plötzlich können Mechanismen und Codes besichtigt werden, angeschaut werden, von jeder Seite. Und da stehen sie dann seltsam kümmerlich im Raum, diese entlarvten Muster. Sie bekommen Angst und laufen davon, bevor noch ein kleiner Windstoß sie umpusten kann. 

WEARING HEAVY BOOTS
von HELLA LUX

Shirin Sojitrawalla:
Ein Wald, eine Kerze, ein Steg ins Offene. Wie illustriert man Sterben, Tod und Trauer? Manchmal genügt weißes Papier. Eine weiße Leinwand, vor deren Hintergrund Hella Lux Trauerarbeit vollzieht. Ihr Performance-Film „Wearing Heavy Boots“ liefert eine Anleitung zum Trauern, die den unterschiedlichen Phasen, Metamorphosen und Zuständen dieses menschlichen Ur-Gefühls mit Witz, Akribie und poetischer Zuversicht auf den Grund geht. Jenseitsvorstellungen treffen auf Ratgeberweisheiten, immer nach der Devise: „Weitermachen. Nicht stehen bleiben“.

Esther Holland-Merten:
„Benennung ist Übungssache“ hört man ganz zu Beginn. „Ich bin eine Anleitung, folge mir soweit Du kannst. Eins. Du brauchst Deine Stimme, Deinen Körper, Deine Gedanken.“ Über einzelne Kapitel vernetzt sich der Abend hinein in sein Thema. Sind es Handlungsanweisungen? Sind es Angebote an mich, ins Geschehen einzutreten? Sind es Möglichkeiten der Zugänglichkeit zum Thema? Sind es Wege, die auf das Thema zulaufen, es umgehen, es durchkreuzen? Mit ungewöhnlichen Mitteln geben Hella Lux einem leerstellendurchsetzten Terrain Sprache, Körper, Bilder und Handlung und kreieren dafür performative Verfahren, die überraschen und mich sinnlich beherzt mitreißen.

Miriam Ibrahim:
Mich hat vor allem das geschickte Zusammenspiel der Theater-Film-Mittel beeindruckt, die ich hier ganz deutlich hervorheben möchte: <
- unterschiedliche Kameraperspektiven, die unterschiedliche Wahrheiten zulassen.
- smarter und interessanter Videoschnitt, der uns die Mehrdimensionalität sichtbar macht. 
- vielfältige und überraschende Raumnutzung, die mich außerhalb „der Box“ denken lässt.
- kluger Set-Aufbau aus Labor und realem Ort, was Reales mit Fiktivem und Traum vereint. 
- diverse Positionen der Darsteller*innen im Raum und Film, alles könnte jeder Person wiederfahren, je nach dem...

IMPORTANT 
von und mit Anton Rudakov

Esther Holland-Merten: 
Verstört und in Unruhe verlasse ich diesen Abend. Die Tanzperformance von und mit Anton Rudakov ist unangenehm. In ihr wird es unbehaglich, bedrohlich, unberechenbar und sie bietet keinen Schutz. Die Angst kommt ganz nah an mich heran, von der Bühne zu mir in den doch sonst so geschützten Publikumsraum. Anton Rudakov begibt sich mit seiner Arbeit inmitten hinein in eine Landschaft aus Misshandlungen an Körpern und Seelen. Er lässt erahnen, wie die Deformation von Menschen vonstatten geht, die Machtmissbrauch und Unterdrückung als Teil ihres Lebensalltags ausgesetzt sind. Körperliche Verkrümmungen, emotionale Gewalt, politische Verwahrlosung, ein dunkles Dickicht an unangenehmen Geräuschen und zu lauter Musik, Zirkustöne, Märsche – Stück für Stück setzt sich der Abend zusammen und wird zu einer unerträglich zwingenden künstlerischen Reflexion auf eine Lebensrealität in unweiter Nachbar_innenschaft.

Miriam Ibrahim:
Anton Rudakov leistet Widerstand. Mit seiner Arbeit erhebt er die Stimme, die Faust, das Haupt und die Axt. 
Er macht sichtbar, welchen Weg und welche Kraft, welche Schmerzen und welche Pein es bedarf, um Widerstand zu leisten. Und das der Akt der Zerstörung, nicht die Wiederholung der Gesichte aufhält, sondern der Akt des stetigen Widerstands gegen Ungerechtigkeit. 

Shirin Sojitrawalla:
Anton Rudakov wurde in St. Petersburg geboren und studierte an der dortigen Vaganova-Ballettakademie. In seinem Solo „Important“ wirft er einen Blick zurück, spiegelt die disparaten Zustände in Belarus und Russland, den Krieg, die Gewaltherrschaft, die Unterdrückung, die Ohnmacht, den Taumel, aber auch die Euphorie kurzfristiger Siege. Stilisierte Typen lässt er aufmarschieren, Diktatoren, Revolutionäre, Geknechtete. Es ist eine Studie politischen Versagens. Traurig, kraftvoll und extrem eigensinnig.

1 Preis in der Kategorie: 
SPIEL. REALITÄT. MAGIE.
Der Moment, in dem Synergie entsteht.
Ein Preis für das auf der Bühne sichtbare Ensemble.

1001 SORRYS
von und mit Hanna Steinmair, Max Brands und Bastian Sistig

Shirin Sojitrawalla:
Sich zu entschuldigen ist nicht naturgegeben. Wir alle mussten es lernen, manche lernten es nie. Das deutsche „Entschuldigung“ ist freilich nichts gegen die lässig hingeworfene zweisilbige englische Variante: Sorry. Hanna Steinmair, Max Brands und Bastian Sistig sammeln Entschuldigungen wie andere Pilze. Sorry fürs Zuspätkommen, Sorry, ich bin nicht zuständig, Sorry, ich liebe Dich nicht mehr. Sorry für dies, Sorry für das. Kleinigkeiten, Privates, Politisches reihen sie aneinander und machen en passant deutlich: kein Sorry ohne Kontext. Manche Entschuldigungen wiegen schwer wie Steine, andere dienen bloß der ironischen Satzeröffnung. Die drei geraten dabei in einen regelrechten Wettbewerb; erst wer 1001 Mal gesagt hat, dass es ihm oder ihr Leid tue, ist raus aus dem Spiel. Es glückt eine ebenso komische wie leichtfüßige Performance. 

Esther Holland-Merten:
Im Sorry stecken bleiben, ein Sorry vergessen, den Fluss der Sorrys unterbrechend, innehalten, sich hetzen ... so zahlreich die Situationen sind, die die prägnanten Entschuldigungen im Auge der Betrachterin heraufbeschwören, so zahlreich die Spielformen der Performer_innen. Mal zurückhaltend formulierend, mal forsch in die Welt posaunend, mal synchron, mal asynchron, mal konspirativ mit dem Publikum, mal unumwunden genervt, und immer als Agent_innen des Themas. Erst gemeinsam Sorrys sammelnd, finden die Spieler_innen später im Wettbewerb großartige Mittel, um zuerst auf der Zielgeraden einlaufen zu können. Sie haben Spaß mit dem Thema, sie haben Spaß aneinander und miteinander, sie haben Spaß mit dem Publikum, sie sind der Humor. Was für eine seltene schöne Erfahrung im Theater.

Miriam Ibrahim: 
Eine seltene schöne Erfahrung im Theater, der es gelingt Jung und Alt mit wenigen und schlichten Theater-Mitteln, wie 3 Mikros, ein paar Luftballons, Klickzählern, einem Stuhl und simplen Kostümen ganz groß zu verzaubern! 1001 Sorrys, macht Lust auf Theater: Sorry, we are not sorry! 

1 Preis in der Kategorie: 
KOLLEKTIV. IMPULS. VISION.
Der Moment, der die Bewegung entfachte.
Ein Preis für das künstlerische Team vor und hinter der Bühne. 

NSU 2.0. 
Eine Stückentwicklung von Nuran David Calis
Auftragswerk des Schauspiel Frankfurt

Esther Holland-Merten:
Das Team der Produktion „NSU 2.0“ hat es sich nicht leicht gemacht. In einer Mischung aus dokumentarischen Unterlagen, Video-Interviews, eigenen Reflexionen verweben sie verschiedene Text- und Materialebenen, um sich dem Unfassbaren zu nähern, dem Morden aus rassistischen Gründen. Es ist eine Suche nach den Verzweigungen und verwinkelten Verbindungen zwischen den Akteur_innen und deren Unterstützer_innen. Offiziell gibt es dieses Netzwerk nicht. Kein Wort dazu. Aber das will dieser Abend nicht akzeptieren. 

Shirin Sojitrawalla:
Es ist nicht das erste Mal, dass sich der Regisseur Nuran David Calis mit dem Themenkomplex NSU auseinandersetzt, und vermutlich wird es auch nicht das letzte Mal sein. Diesmal zieht er eine Linie von den Morden des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds über den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke bis hin zum Anschlag in Hanau im Februar 2020. Eine fatale Linie voller Staatsversagen und politischer Fehlannahmen. Der Abend schärft unseren Blick für den Gesamtzusammenhang.

Miriam Ibrahim:
Was hat Theater mit mir, mit uns zu tun?
Und was soll Theater? 
Das Unfassbare, fassbarer machen? Das Unsichtbare, sichtbarer? Das Ungehörte, hörbarer?
Die Morde des NSU, haben mit mir zu tun. Mit Ihnen. Mit uns. Sie passieren in dieser Gesellschaft hier, in der Sie, ich, wir wohnen, leben, lieben und manchmal auch leiden.  Gemeinsam oder auch einsam. Rassistische Gewalt geht uns alle an. Sie schmerzt im Alltag, blockiert strukturell und mordet im Hass. Wir, gemeinsam müssen dieses Verhalten in unserer Gesellschaft verstehen, um es gemeinsam ändern zu können. Reflektionen dieses gesellschaftlichen und politischen Phänomens sind daher unabdingbar. Die Inszenierung NSU 2.0 lässt die Wirklichkeit nicht in Ruhe, sie fragt erneut die Fragen, auf deren Antworten wir noch immer warten. Lasst uns weiter fragen.